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Origo

Noch einundvierzig Tage. Bis zum 18. Mai 2013. Der Tag, an dem ich das Alter erreicht haben werde, in dem das Leben meines Vaters endete. Sein Herz aufhörte zu schlagen. Vierundfünfzig Jahre, neun Monate und acht Tage. Solange dauerte sein Leben bis dahin. Ich war zehn und mein Vater war alt. In meinen Augen war er alt. Die mir über das Haar strichen und mir ihre Hilfe für den Fall anboten, dass ich sie „irgendwann einmal“ brauchen würde, äußerten sich bestürzt darüber, dass er doch noch so jung war. Jedenfalls zu jung, um zu sterben. Aber das war es nicht, was mich bedrückte. Nicht, dass er nur vierundfünfzig Jahre alt geworden war. Für mich als Zehnjährigen war das nicht von Bedeutung. Das änderte sich erst im Laufe der Jahre. Ich glaube, es begann, als ich selbst Vater wurde. Immer öfter kam mir die bange Frage danach in den Sinn, wieviel Zeit mir noch bleiben würde. Anfangs nur wie ein Gedankenblitz. So rasch wie er aufflackerte, war er auch wieder erloschen. Doch aus den flüchtigen Begegnungen wurden über die Jahre Rendez-vous‘. Die Frage stellte sich in immer kürzeren Abständen. Begann, sich aufzudrängen. Und ich ließ mich auf sie ein. Fing sogar an, ihr nachzugehen. Suchte irgendwann ihre Nähe. Nahm mir Zeit für sie und kleidete sie in die unterschiedlichsten Gewänder. Die durchschnittliche Lebenszeit eines männlichen Mitteleuropäers umgerechnet auf ein Kalenderjahr. In welchem Monat lebe ich? Umgerechnet auf einen Tag; wie spät ist es auf meiner Lebensuhr. Und wenn mir nur so viel Zeit wie meinem Vater bliebe?

Ich erinnere mich an einen Spaziergang mit ihm. An der Schleuse zur Oberhavel machten wir Pause. Über das Geländer am Lindenufer gebeugt beobachteten wir den Schiffsverkehr. Ausflugsdampfer und Lastkähne, die geschleust wurden. Auf so einem Lastkahn würde er gern mal mitfahren. Nicht auf einem Passagierschiff und nicht auf hoher See. Nein, als Mitglied der Besatzung eines solchen Lastkahns die Flüsse entlang. Das war der Traum, den er mir ausmalte. Und ich sah ihn in kurzen Hosen und weißem Feinripp-Unterhemd auf dem schmallen Gang zwischen Laderaum und Bordwand stehen. Sonnengebräunt, sein Oberkörper schweissnass, ein Tau in seinen kräftigen Händen haltend. Irgendwann einmal, und dabei klang er ganz überzeugt, wird er das auch machen. Ich weiß nicht, wie alt ich war, als mir mein Vater von seinem Traum erzählte. Und auch nicht, wieviel Zeit ihm von diesem Tag am Lindenufer an noch blieb. Ich weiß aber, dass er nie auf einem Lastkahn gefahren ist. Nicht einmal ein kleines Stück auf der Havel. Dafür wird es Gründe gegeben haben. Arbeit, Geld, Verpflichtungen. Und womöglich auch die unberechtigte Sicherheit, dass es für „irgendwann mal“ irgendwann noch Zeit und Gelegenheit geben wird.

Die Frage nach der Zeit, die mir noch bleibt, mag bisweilen düstere Gedanken heraufbeschwören. Ich könnte versuchen, ihr aus dem Weg zu gehen. Der motivierende und begeisternde Appell, der von ihr ausgeht, wäre dann aber auch nicht zu vernehmen: Jetzt!

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